SeniorenZentrum Offenbach

Wenn das Leben nur im Jetzt geschieht 2

Einige Betrachtungen zur Demenz – Teil 2 von 4

Ich wurde von einigen Lesern gespannt angesprochen, wie die Geschichte mit Karl und seiner Frau denn weitergehe. Es ist eigentlich eine endlose Geschichte und hat alle Eigenschaften einer klassischen Tragödie: Ohne schuldhaftes Verhalten steuern die Ereignisse auf die Katastrophe zu – oder gelingt doch noch eine Wende?

Wir waren da stehen geblieben, wo Karl entsetzt und verzweifelt aus der Wohnung rennt, weil seine Frau „nur mal schnell zur Nachbarin“ gegangen ist. Obwohl sie ihm alles erklärt hat, wohin sie geht und was sie vorhat, als die Tür sich hinter seiner Frau schließt, weiß Karl nichts mehr.

Jetzt pocht er an die Türen der Nachbarn und ruft aufgeregt: „Hallo, hallo, Hilfe, ich muss ganz schnell nach Hause …“.Zwei Nachbarn öffnen die Tür und finden einen völlig verstörten Karl B. vor, der auf keine Frage et-was Verständliches antworten kann. Eine von ihnen schaut in der Wohnung des Ehepaares nach, weil sie vermuten, der Ehefrau könnte etwas zugestoßen sein. Doch die Wohnung ist leer.

Die Beruhigungsversuche der beiden Frauen -„Herr B., sie sind doch hier zuhause“ oder: „Ihre Frau ist bestimmt gleich wieder da, so beruhigen sie sich doch“ – zeigen keinerlei Wirkung. In ihrer Not rufen sie die Polizei, die nach ca. 5 Minuten zusammen mit Frau B. eintrifft, die gerade von Gerda mit dem Mehl in der Hand von unten hochkommt.

Jetzt kommt es zu dem verunglückten Gespräch. Wütend verschanzt sich Herr B. in seinem Zimmer und Frau B. steht traurig und verzweifelt da: „So kann das nicht weitergehen, wir machen uns gegenseitig fertig.“

Nachdem Frau B. in der Sprechstunde ihrer Wut, ihrem Schmerz und ihrer Trauer Raum gegeben hat, beginnt sie von Karl zu erzählen, wie er früher war.

„Auf ihn konnte ich mich verlassen. Alles haben wir mit-einander besprechen können. Und so praktisch war er: Alle Reparaturen und Einbauten hat er selbst gemacht. Heute ist nichts mehr davon da.“

Sie spricht noch eine Zeitlang von ihm und ihrer Ehe und von den Kindern, die leider alle nicht in ihrer Nähe wohnen.

Sie zeichnet ein sehr liebevolles Bild von Karl, der stets aufmerksam war und zugehörte. Natürlich konnte er auch eigen sein, da mussten manchmal auch klare Worte gesprochen werden. Aber ihre Auseinandersetzungen hatten nie etwas grundsätzlich Trennendes, sie waren immer daraufhin angelegt, Lösungen und Verständigung zu finden.

Frau B. berichtet weiter: „Das trifft heute überhaupt nicht mehr zu und ich erwische mich manchmal bei dem Gedanken, ihn in einem Pflegeheim anzumelden. Dann er-schrecke ich über mich selbst!“

Was Frau B. sehr gut beschreibt, ist nicht nur, dass sie sich sehr mit Karl verbunden fühlt, sondern auch noch ganz in dem Bild verankert ist, wie er vor 10 oder 20 Jahren gewesen ist.

Jede Familie entwickelt im Laufe ihres Zusammenlebens „ihre ganz persönliche Familienmelodie“. Dazu gehören bestimmte Begriffe, eine bestimmte Rhythmisierung des gemeinsamen Lebens, ein bestimmter Geschmack, der sich in Kleidung, Wohnungseinrichtung und kulturellen Betätigungen äußert. Da genügt es manchmal, die linke Augenbraue zu heben und der andere weiß Bescheid. All diese lieb gewonnenen, wenn auch manchmal nervigen Eigenheiten verlieren oder verändern sich mit der Demenz. Das gemeinsame Sprachverständnis geht verloren oft auch die Sprache selbst.

Durch die gestörten biochemischen Prozesse im Gehirn von Karl verändert dieser sich. Seine Identität löst sich langsam auf und entschwindet so der Erreichbarkeit seiner Frau. Diese möchte ihn aber gerne wieder so haben, wie er früher war, verantwortungsbewusst und zuverlässig, klug und umsichtig. Und so spricht sie ihn auch an, sie kommuniziert immer noch mit dem selben Verständnis mit ihm, wie sie es vor 20 Jahren gemacht hat und versteht nicht, warum er nicht genau so reagiert, wie er es damals getan hat.

Ihr inneres Bild von Karl hat sich noch nicht den Veränderungen angepasst, die Karl wegen seiner Krankheit durchläuft.

In diesem Punkt zeigt sich das ganze Dilemma der Beziehungen zwischen den Familienangehörigen und dem Kranken: Jeder versucht auf seine Weise, das Vertraute, das Liebgewonnene, die „seelische Heimat“ (Arno Geiger: Der alte König in seinem Labyrinth) zu erhalten und mit jedem Versuch driften die Beiden weiter von einander weg.

Frau B. versucht Karl mit deutlichen Worten klar zu machen, dass das, was er getan hat unsinnig ist. Er solle gefälligst zuhören, wie er das früher auch getan hat, er soll sich etwas Mühe geben, das habe ihn früher doch auch ausgezeichnet. Warum jetzt nicht?

Ihr Ergebnis: „Der will bloß nicht! Der will mich ärgern!“

Karl hingegen ist äußerst bemüht, das Auseinanderfallen seiner Familie zu verhindern. Er sucht seine Frau, er will nach Hause, da müssen doch auch die anderen sein …

Jeder ist auf seine Weise verzweifelt bemüht, das, was ihm lieb ist, zu behalten und zu bewahren. Aber beide bewegen sich in unterschiedlichen Welten.

In der Psychologie gibt es den Begriff der „Inneren Landkarte“. Dieser Begriff „…ist eine Metapher für die Tatsache, dass jeder Mensch seine Erfahrungen mit der Realität auf eine hochgradig individuelle Weise verarbeitet. Wir alle haben in unserem Kopf unsere eigene innere Landkarte. Sie ist ein einzigartiges Abbild der Realität. Dort ist der ganze Schatz unserer Erfahrungen mit der Umwelt neurologisch verankert. Die „innere Landkarte” bildet die Grundlage unserer Orientierung“ (1)

Frau B.’s innere Landkarte ist noch ganz von den Vorstellungen über ihren Mann geprägt, wie er vor 20 und mehr Jahren gewesen ist. Diese neurologische Verankerung sitzt tief und lässt sich nicht einfach wegwischen.   Jetzt wird deutlich, warum die oft so gut gemeinten Ratschläge von Freunden und Bekannten („Du musst einfach die Krankheit Deines Mannes akzeptieren“) scheitern und wenig hilfreich sind. Sie meinen vielleicht das Richtige, aber die erklären nicht, wie man das macht: einfach akzeptieren.

Karls „innere Landkarte“ hingegen hat sich durch die Krankheit stark verändert.

Um Frau B. zu helfen, eine Orientierung in der Orientierungslosigkeit zwischen ihr und ihrem Mann zu finden, muss sich etwas an ihrer „inneren Landkarte“ ändern. Ein erster Schritt hierzu ist, sich ein Bild davon zu machen, wie ein Mensch mit einer Demenz sich selbst und seine Umwelt wahrnimmt.

Im nächsten Kapitel möchte ich Sie, geneigter Leser, gerne auf diese „Expedition“ in den Dschungel der Gedankenwelt von Karl mitnehmen.

 

Stephan Detig

Falls Sie Teil 1 noch nicht gelesen haben, finden Sie diesen hier.

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(1.) Rückel, Thomas; NLP in Stichworten, Junfermann Verlag, 1994
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