SeniorenZentrum Offenbach

Wenn das Leben nur im Jetzt geschieht 1

Einige Betrachtungen zur Demenz – Teil 1 von 4

Frau B. kommt zu mir in die Beratung und ist völlig verzweifelt. Den Tränen nahe berichtet sie, dass sie ihren Mann seit 2 Jahren betreut. Er vergesse alles, was man ihm sage, innerhalb von Minuten. Neulich habe er sogar nicht mehr gewusst, wer sie sei. Den ganzen Tag laufe er oft sehr aufgeregt herum und suche Dinge, die er nicht mehr richtig benennen kann.

Neulich sei sie zu ihrer Bekannten ein Stockwerk unter ihrer Wohnung gegangen. Ihrem Mann sagte sie: „Karl, bleibe hier, ich komme in 5 Minuten wieder, ich gehe nur zur Gerda und hole etwas Mehl“.
Frau B. berichtet weiter:
Nur wenige Minuten später hörte ich aufgeregte Stimmen im Treppenhaus. Mehrere Nachbarn waren bemüht, meinen Mann zu beruhigen, der immer lauter wurde und rief: „Ich muss jetzt ganz schnell nach Hause.“

Ich fand meinen Mann völlig aufgelöst vor. Er war wütend und verzweifelt gleichzeitig – ehrlich gesagt: ich aber auch.

In der Wohnung machte ich ihm Vorwürfe: „Wie kannst Du Dich nur so aufführen. Was sollen denn die Leute denken. Ich habe Dir doch gesagt, ich bin in 5 Minuten wieder da und hier ist das Mehl, das ich von Gerda geholt habe. Verdammt noch einmal, kannst Du Dir das nicht einmal ein paar Minuten merken?“
Karl schaute mich mit wütenden Augen an, wollte etwas sagen, suchte nach Worten, fuchtelte mit den Armen, drehte sich um, ging in sein Zimmer und warf die Tür zu.
Ich stand wie ein begossener Pudel da. Ich spürte, dass etwas gründlich schief gelaufen ist, aber was nur? Was kann ich denn nur tun, dass es nicht zu solchen Exzessen kommt? Das komische daran ist: Wenn er auch sonst alles vergisst, nach diesem Ereignis hat er noch den ganzen Abend geschmollt.
Soweit der Bericht von Frau B., der mich sehr nachdenklich stimmt.
Solche und ähnliche Situationen schildern viele Ratsuchende im „Zentrum für Beratung und Begleitung“ (*1) immer wieder. Es ist das zentrale Problem der pflegenden Angehörigen, dass bei aller Bereitschaft, die Betreuung zu übernehmen, sie machtlos mit anschauen müssen, wie der Kranke ihnen entschwindet. 

Sie verstehen sein Handeln nicht, sie verstehen seine Worte nicht, sie verstehen nicht, wo er sich gerade mental aufhält und sie verstehen sich selbst oft nicht. Das macht sie verzweifelt, machtlos und oft wütend.
Das Beispiel von Frau B. zeigt das Grundproblem auf eindringliche Weise:
Stellen wir uns die Situation, so wie Frau B. sie beschrieben hat, einmal bildlich – nein besser, wie einen Film – vor.
Frau B. erklärt kurz und knapp, dass sie zu Gerda geht und Mehl holt und in 5 Minuten wieder da sei.
Wenn wir nun einmal versuchen, uns „in die Schuhe des Kranken zu stellen (Naomi Feil)(2), fluten in 3 Sätzen vier Informationen auf Karl ein:

• Diese Frau da, die vor mir steht, wer immer sie auch sein mag, geht offenbar weg,
• irgendwie geht es dabei um eine Gerda. wer das nun schon wieder ist, keine Ahnung,
• und dann will sie auch noch was holen, weiß aber nicht mehr was (Mehl!),
• und was war da mit den 5 Minuten? Was soll da passieren?

Karl ist völlig durcheinander. Im tragischsten Sinne des Sprichwortes: „Aus dem Auge aus dem Sinn“, weiß Karl nichts mehr, nachdem die Tür zuklappte und diese Frau verschwand.
Auch wenn er sich an den Namen dieser Frau nicht immer erinnern kann, die in seiner Wohnung lebt (oder wessen Wohnung ist das denn überhaupt?), das eine „weiß“ er doch: er braucht sie. Ohne sie, weiß er überhaupt nicht weiter. Und wenn sie nicht zu sehen ist, bekommt er Angst, weil er jetzt gar nicht weiß, wie alles weitergehen soll. Wenn diese Frau da ist, das gibt ihm etwas Sicherheit.

Karl kann sich aktuelle Ereignisse so gut wie nicht merken. Er leidet an einer fortgeschrittenen Demenz. Er weiß nicht, was 5 Minuten sind, er weiß nicht wer Gerda ist (will die vielleicht was Böses?) und warum muss sie etwas holen? Haben wir nicht alles in unserem Leben gehabt? Habe ich nicht dafür gut gesorgt?
Karl steht jetzt allein in dem dunklen Flur und bekommt Angst. Da er keinen Begriff mehr von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat, empfindet er jetzt sein Alleingelassen werden als sehr bedrohlich. Diesen Zustand erlebt er als dauerhaft, weil er nicht weiß, wie er beendet werden könnte. Er sitzt in seiner „Hier und Jetzt-Situation“ gefangen, in einer unverständlichen, von Angst und Hilflosigkeit geprägten „ewigen Gegenwart!“ Und das – dass „weiß“ er ganz sicher – ist sein Untergang.
Also, rennt er raus und klopft bei den Nachbarn und ruft ganz aufgeregt im Treppenhaus nach Hilfe.

 

Stephan Detig

 

Hier geht es zu Teil 2.

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1 Das Zentrum für Beratung und Begleitung ist eine Einrichtung des SeniorenZentrum Offenbach. Dort beraten 2 Mitarbeiterinnen und ein Mitarbeiter pflegende Angehörige. Wie sie Frau B. weiterhelfen konnten, lesen sie in der nächsten Ausgabe.

2 Naomi Feil, eine amerikanische Sozialarbeiterin und Psychologin, hat jahrelang im Heim ihres Vaters mit alten und dementen Menschen gearbeitet. Sie entwickelte einen besonderen Umgang mit diesen Menschen, die sogenannte Validation. Sie beschreibt sehr einfühlsam, wie sich Menschen mit einer Demenz fühlen. Sie spricht bei der Bemühung, sich in die Menschen hineinzuversetzen von:
„In den Schuhen der Kranken gehen “.

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